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Christoph Reuter „Foxtrott auf Höhe 432

Foxtrott auf Höhe 432

Dies ist der letzte Vorposten der Bundeswehr nach acht Jahren in Afghanistan. Eine Stellung mit Gräben wie im Ersten Weltkrieg und einer Senseo-Kaffeemaschine. Der Endpunkt dessen, was deutsche Soldaten wohl erreichen können


Christoph Reuter, stern, 24.06.2010


Aus dem blauen Licht des Morgengrauens und dem Frühnebel zwischen den Bäumen ragt der Hügel über die Ebene. Einsam und steil. Von oben tasten die Augen der Wachhabenden der Nacht nach jeder Bewegung. Vor ihnen liegt nur noch Feindesland. Der Hügel ist Deutschlands letzter Vorposten: die „Höhe 432“, mitten in Tschahar Dara, südwestlich von Kundus. Benannt nach ihrer Höhe über dem Meeresspiegel. Rund 50 Meter breit, 70 Meter hoch.

Um halb fünf Uhr morgens ist es ruhig. Das Donnern der Leuchtgranaten, die um ein und zwei Uhr nachts für eine halbe Minute das Land bis zum Horizont in Helligkeit tauchten, der erste Gebetsruf des Muezzins und die Schüsse irgendwo in kilometerweiter Entfernung – alles verhallt. Woher die Schüsse kamen, wem sie galten? Alexander N., Zugführer der Foxtrott-Einheit, hebt die Schultern. Sein Blick wandert über die jetzt so freundlich daliegende, geradezu toskanische Landschaft. „Keine Ahnung. Irgendwer gegen irgendwen, Taliban, Milizen.“

Alltag in einem Krieg gegen einen unfassbaren Gegner: der entweder unsichtbar bleibt im Grabengewirr und in den Dickichten bis zum Moment, wenn er schießt. Oder der vollkommen offen in der Landschaft sitzt mit einem Mobiltelefon am Ohr, jede Bewegung der deutschen Truppen an die Taliban durchgebend; der als Bauer mit einer Schaufel über der Schulter übers Feld läuft als Signal, dass in einer Minute der Angriff beginnt. Beides Tätigkeiten, für die man niemanden erschießen, nicht einmal festnehmen kann. Alltag im Irrsinn.

Rasch steigt die Hitze. Kaum ist die Sonne über dem Horizont, wird das Licht gleißend. Ein paar Stunden noch, bevor sie wieder hoch genug stehen wird, um jede Bewegung der Männer unter ihren 18 Kilo schweren Splitterschutzwesten zur Qual zu machen. Wer nicht auf Posten ist, liegt oder sitzt mit nacktem Oberkörper im Schatten, versucht ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Ein Dutzend Soldaten, jeweils die Hälfte des Foxtrott-Zuges der 1. Infanteriekompanie, hält den Hügel, lebt hier tagelang, bis die Ablösung kommt.

Seit 2008, seit der von Wald, Bächen, Gräben durchzogene Bezirk Tschahar Dara zur Hochburg der Taliban wurde, hat die Bundeswehr dort zunächst zeitweilig, dann permanent Vorposten eingenommen: erst das Polizeihauptquartier, dann ein Stück weiter die Höhe 431, „und im letzten Jahr haben wir dem Feind noch einmal 600 Meter bis zur Höhe 432 abgenommen“, sagt Alexander N., seine Stimme balanciert zwischen Ernst und Ironie.

Nicht nur die Worte klingen wie Erster Weltkrieg. Auch der Hügel sieht danach aus: Tief ausgeschachtete Laufgänge ziehen sich durchs winzige Plateau. Die Männer leben und schlafen in Unterständen unter Bohlendächern und Sandsäcken, „aber wenigstens nicht mehr unter Planen in den Gräben“. Der Zugführer ist ein bisschen stolz auf „ihre“ Höhe, ein Werk des Foxtrott-Zuges. Seit dem 15. März haben sie hier geschuftet, die Gräben aus dem steinharten Lehm gehackt, haben afghanische Tagelöhner Kies, Sandsäcke, Bohlen hochschleppen lassen, haben die halb offenen Bunker befestigt. Auffälligster Tribut an die Neuzeit ist die Abschussvorrichtung für Milan-Panzerabwehrraketen, die imstande sind, jene oft meterdicken Lehmmauern der festungsartigen Gehöfte zu durchschlagen. Und: eine Senseo-Kaffeemaschine.

Nach mehreren Milliarden Euro, die Deutschland für den nun seit acht Jahren andauernden Bundeswehreinsatz in Afghanistan ausgegeben hat, ist die Höhe 432 der voraussichtliche Endpunkt des Erreichten. „Wir haben Krieg. Aber wir führen ihn nicht“, sagt der Zugführer, während er den Blick über das unheimliche Land schweifen lässt. „Die unten kommen nicht näher an uns ran, und wir haben nicht genug Mann, weiter vorzurücken. Wir haben dem Gegner 600 Meter Gelände abgenommen. Mehr wollte keiner. Mit fünf Kompanien könnten wir ganz Tschahar Dara einnehmen“, aber die gebe es halt nicht.

So stehen sich beide Seiten gegenüber. Schwere Waffen gegen Hinterhalte und Unsichtbarkeit, Nachtsichtgeräte gegen die Katzenaugen der Afghanen, die sich ohne Hilfsmittel geschmeidig durch die Dunkelheit bewegen. Keine Seite kommt weiter, und die Ruhe verdanken sie einem unerwarteten Element: „Vorläufig rettet uns die Erntezeit.“

Gelb wogend steht der Weizen auf den Feldern. Würde geschossen, wäre die Gefahr groß, dass die Felder niederbrennen. Dann könnten die Bauern ihre Steuern an die Taliban nicht bezahlen. Und jene Taliban, die auch Bauern sind, haben eh keine Zeit. Sie müssen jetzt ernten. Aus abgehörten Telefonaten und Spitzelberichten wissen die Deutschen von Abmachungen, den Weizen zu schonen. Also gibt es Raketenbeschuss und Sprengfallen an den Wegen, aber keine Angriffe. Bis die Ernte eingebracht ist.

Am Tag zuvor ist ein Spreng satz unter einem Bundeswehrfahrzeug in der Nähe explodiert, hat einen Soldaten verletzt. In der Nacht tauchten im Schein der Leuchtgranaten Kilometer entfernt ein paar Männer auf, die hektisch wegrannten. Vielleicht hatten sie eine mobile Abschussrampe für ihre Raketen chinesischer Bauart aufschichten, vielleicht einen Sprengsatz vergraben wollen. Aber kein offener Kampf, keine Gefechte seit Tagen. Eine unheimliche Ruhe, die sich vor allem in einem manifestiert: Lärm. Der Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. „Fast jede Nacht wird irgendwo geschossen, explodiert eine Mörsergranate“, klagt einer der Soldaten mit schlafmüden Augen, „ein Nervenkrieg.“

Zehn Tage zuvor, im Anschluss an eine hektisch über den Lautsprecher einer Moschee in der Nähe übertragenen Freitagspredigt, sei sogar eine krächzende Ansprache auf Deutsch zu hören gewesen: Deutsche, ergebt euch! Bundeswehr, gebt auf!

Im Kampf der gegenseitigen Zermürbung „schlagen wir jetzt zurück!“ Kompanie-Kommandeur und Hauptmann Jan S., unterwegs auf Patrouille, ist auf die Höhe gekommen, um die neueste Eskalationsstufe zu begutachten: Weit über die Ebene Tschahar Daras dröhnt der Große Kurfürstenmarsch aus Lautsprecherboxen an der Hügelkante. Gefolgt von einer kurzen, strengen Ansprache auf Paschtu: Dass die Aufständischen sich ergeben und die rechtmäßige Regierung Afghanistans anerkennen sollten! Dann: Rammstein. Dann wieder die Ermahnung zur Aufgabe, gefolgt von Bushido. Bei einem Angriff auf einen Konvoi vor einer Weile soll es die Angreifer zumindest zeitweise verwirrt haben, dass plötzlich vom mitfahrenden Lautsprecherwagen „Hells Bells“ von AC/DC gespielt wurde.

TPT heißt das in der abkürzungsverliebten Bundeswehr, „tactical psyops team“, und zwischendurch klingt es vom Hügel nun so: „Alkohoool ist dein Sanitäter in der Not, Alkohooool ist dein Fallschirm und dein Rettungsboot.“ Falls die Taliban da unten Herbert Grönemeyer noch nicht kannten, sieht das jetzt anders aus. Was jeder der Männer an Musik dabeihat, wird gesendet. Angriff mit iPod Shuffle.

Bringt das die Taliban zur Aufgabe? „Nicht unbedingt“, räumt der Hauptmann ein, „aber darum geht es auch weniger. Damit treiben wir sie raus!“ Kaum gesagt, steigt tatsächlich die dünne, weiße Rauchfahne eines sogenannten Bodenleuchtkörpers aus dem blickdichten Grün 150 Meter vor dem Hügel auf. Ein Esel, ein Talib, ein Bauer, irgendwer ist in einen der Stolperdrähte gelaufen, mit denen die uneinsehbaren Gräben rund um die Höhe 432 gesichert sind.

Im Unterstand nebenan, das überlange G-82-Gewehr zwischen Sandsäcken stabilisiert, liegen ein Scharfschütze und sein Beobachter, der die Windgeschwindigkeit misst und das Gesamtareal im Auge behält. Millimeter um Millimeter wandert ihr Blick über die Umgebung der Rauchsäule, strandet immer wieder im dichten Laub. Leise fliegen zwischen ihnen die Worte zur Orientierung hin und her.

Links, weiter links. Die Baumgruppe!“ – „Habe ich.“ – „Zwei große Bäume, daneben ein hellgrüner“ – „Ja.“ – „Dann ist da eine Lücke.“ – „Habe ich.“ – „Der Schatten da, bewegt der sich?“ –„Nee.“ – „Nur ein Schatten?“ –„Schatten!“

In der Ferne läuft ein Bauer vorbei, langsam verkräuselt sich die weiße Rauchsäule in der Gluthitze.

Richtet man den Blick nur ein wenig höher in die Ferne, tauchen vorm Horizont die Lehmmauern von Isa Chel auf. Zwischen dem Dorf und der Höhe 432 liegt die Kampfzone vom Karfreitag, als beim Versuch, die Zufahrtsstraße von Sprengfallen zu räumen, Soldaten der 1. Infanteriekompanie in einen Hinterhalt der Taliban liefen. Nach stundenlangen Gefechten waren drei Soldaten vom Golf-Zug tot, vier schwer verletzt – die auch nicht alle überlebt hätten, wären nicht amerikanische Medevac-Hubschrauber unter Feuer vor der Höhe gelandet, um sie ins Rettungszentrum zu fliegen.

Nur Wochen später war es wieder der Golf-Zug, der wieder in der Nähe von Isa Chel unter Feuer geriet. Nur dass es an diesem 25. Mai eher die Deutschen waren, die die Taliban überraschten. Wieder rannten und duckten sich dieselben Männer stundenlang, wurden aus stets wechselnden Positionen beschossen, „und ich dachte die ganze Zeit, gleich höre ich wieder die Funksprüche von Verletzten, Toten“, erinnert sich Daniel B. Am Karfreitag hatte er am Steuer des Dingo gesessen, unter dem ein Sprengsatz gezündet wurde, der zwei Mann tötete. „Aber diesmal: nicht!“

Die Taliban hatten nur aus Gräben, nicht aus Häusern angegriffen – kein Moment des Zweifels also für die Luftaufklärung, ob auch Zivilisten zu Schaden kommen könnten. Zwei mal zwei 250-Pfund-Bomben eines amerikanischen B-1-Bombers töteten ungefähr zehn der Angreifer, vier wurden von den Scharfschützen erschossen.

Oberstabsgefreiter Patrick P., den sie „Porno“ rufen, empfand Erleichterung über diesen Tag, über die Variante des Karfreitag-Gefechts mit anderem Ausgang: „Es hat mir nicht gar so viel Kummer bereitet.“ Es sei wichtig gewesen, „den Rückhalt zu spüren, dass die Luftunterstützung kam“. Sein Zugführer Mario K., der im April noch aschfahl und mit versteinertem Gesicht von der Trauerfeier aus Deutschland zurückgekehrt war und den Familien der Toten gesagt hatte, dass er es nicht geschafft habe, alle heil nach Hause zurückzubringen – er erinnert sich an das Geräusch der fallenden Bomben. „Fühlte sich gut an. Sehr gut.“

Nach dem Karfreitag hatte die Bundeswehr jenen, die mitgekämpft hatten, freigestellt, vorzeitig nach Hause zu fahren. Daniel B., der Kraftfahrer, hatte sich schon gemeldet – aber sich dann doch anders entschieden: „Bei mir waren ja alle weg, die gesamte Fahrzeugbesatzung und das Fahrzeug“, das noch heute ausgebrannt bei Isa Chel liegt. „Aber ich dachte, wenn ich jetzt gehe, wird sich bei mir alles immer um den Karfreitag drehen. Wenn ich aber bleibe und wenn wieder etwas passiert, wird es vielleicht besser laufen, wenn ich dabei bin. Mag komisch klingen, aber genau so fühlte es sich am Ende an.“

Der Krieg, die Rettung Afghanistans, die einst von Peter Struck beschworene Verteidigung Deutschlands am Hindukusch: Auf der Höhe 432 schrumpft all dies zu sehr persönlichen Dingen. Ein bisschen Wiedergutmachung für ein Versprechen, das man nicht halten konnte. Die Wiederherstellung der Balance, nicht bloß Gejagter zu sein hier. Etwas weniger Schuld der Lebenden gegenüber den Angehörigen der Toten, und sei sie nur gefühlt.

Gewissermaßen stehe es jetzt 1 : 1 bei Deutschland gegen Isa Chel, sagt einer.

Anfang Juli wird ihr Einsatz zu Ende sein. Raus aus der lauernden Gefahr, den zerstückelten Nächten, der Ungewissheit, in der die Scharfschützen den Schatten misstrauen. Für drei, die bei beiden Kämpfen dabei waren, endet auch die Zeit bei der Bundeswehr. Daniel B., Porno und Stefan K., den sie nur Keule nennen, werden wieder ins normale Leben zurückkehren. Das sei schon komisch: „Niemanden mehr zu haben, mit dem man darüber reden kann. Der das versteht!“ Der sich vorstellen könne, wie das ist, wenn auf einen geschossen wird, „wenn da ein paar Hundert Meter weiter welche im Graben liegen und dich töten wollen“.

Porno hat sich beim Auswärtigen Amt beworben, will vielleicht seinen Abschluss machen als „Fachkraft für Schutz und Sicherheit“. Daniel B. wird zur Feuerwehr nach Dresden gehen, Keule in sein Dorf bei Frankfurt an der Oder, zurück in seine alte Firma als Beton- und Brückenbauer: „Es muss ja weitergehen. Irgendwann muss auch mal Tinte sein!“

Und die Höhe 432? Das nächste Kontingent, das ab Anfang Juli eintreffen wird, soll sich mehr um die Ausbildung afghanischer Soldaten als um eigene Einsätze kümmern. Es sei, sagen die Männer, unklar, wie lange überhaupt noch Personal da sein werde, Höhe 432 zu halten.

So steht der kleine Hügel für den ganzen Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan: reingehen, einen Ort einnehmen, nicht weitergehen und vor allem nicht wissen, wie man wieder herauskommt. Die Einsatzführung hat versucht, die Höhe 432 der afghanischen Armee oder Polizei anzudienen – so wie ja das ganze Land nach und nach afghanischen Sicherheitskräften übergeben werden soll. Doch die Afghanen haben abgewinkt. Sie wollen den Hügel nicht.

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Christoph Reuter


„Nur im Bleiben erschließt sich diese Stadt, dieses irrwitzige Land“, schrieb stern-Reporter Christoph Reuter, 42, Anfang 2010 für das Schweizer Magazin DU: „Auf den wohltemperierten Abendgesellschaften der ausländischen Illusionisten, die freimütig vom Desaster all der Aufbaubemühungen erzählen, die sie tagsüber und offiziell stets leugnen. In langen Abenden mit Afghanen, die von den grandiosen Geschäften mit dem Krieg erzählen, der nach offizieller Lesart gewonnen werden soll, woran aber kaum einer der Mächtigen wirkliches Interesse hat.“ Seit 2008 arbeitet Reuter als einziger deutscher Korrespondent in Afghanistan – für den stern, aber auch an Rechercheprojekten wie dem Buch „Kunduz, 4. September 2009“, das dokumentiert, wer wirklich beim Bombardement zweier von Taliban entführter Tanklaster umkam. Reuter, der für den stern auch schon ein Büro in Bagdad 2003 aufbaute und 2004 wieder schloss, arbeitet seit 2002 für das Hamburger Magazin, schrieb seit 1996 vor allem für Geo und die Zeit, hat ab 1990 mehrere neue Tageszeitungen in Chemnitz, Dresden und Berlin mit aufgebaut. Er volontierte an der Henri Nannen-Schule in Hamburg studierte Islamwissenschaft in Deutschland und Syrien, hat ein paar Preise gewonnen und mehrere Bücher über den Nahen Osten geschrieben, von denen das bekannteste („Mein Leben ist eine Waffe“, über Selbstmordattentäter) in acht Sprachen übersetzt wurde. Nebenher bildet er Journalisten aus und versucht gerade, mit den Holzschnitzern in einem ostafghanischen Tal eine Möbelbauwerkstatt aufzubauen.
Dokumente
Foxtrott auf Höhe 432

erschienen in:
Stern,
am 24.06.2010

 

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